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Das neue Bauen in Frankfurt

Zwei Momente, die die Gesellschaft grundlegend verändern sollten: 1924 wurde Ludwig Landmann zum Frankfurter Oberbürgermeister gewählt, ein Jahr später trat sein Stadtbaurat Ernst May das Mandat als stellvertretender Aufsichtsrat bei der Nassauischen Heimstätte an. Das drei Jahre zuvor in Wiesbaden gegründete Unternehmen siedelte 1925 in die Mainstadt über und arbeitete am Projekt "Neues Frankfurt“ mit – ein in der deutschen Geschichte wohl beispielloses Wohnungsbauprogramm.

Späte Ehrung für ein baukulturelles Erbe: Das Land Hessen hat die Siedlungen des "Neuen Frankfurt“ offiziell auf die Tentativliste der UNESCO-Welterbe-Denkmäler gesetzt. Ein schlüssiges Gesamtkonzept und die Gunst der Weltorganisation vorausgesetzt, gehören die in den 1920er und 1930er Jahren entstandenen sozial ausgerichteten Wohnblöcke bald zu den Gebäuden, die es zu schützen gilt. Bereits 2019 wurde das "Neue Frankfurt“ in das Bundesprogramm Nationale Projekte des Städtebaus aufgenommen. Fünf Millionen Euro fließen nun in die Mainmetropole. Mit einem ganzheitlichen Ansatz sollen die Siedlungen wieder als städtebauliche Typologien erlebbar und ihre beispielgebende Qualität deutlich gemacht werden – auch in Hinblick auf die heutigen Herausforderungen des Wohnungsbaus.

Funktional und grün

Angesichts der erdrückenden Wohnungsnot in allen Teilen der jungen Weimarer Republik gründete der Frankfurter Oberbürgermeister Ludwig Landmann ein Siedlungsamt. Den Bauhaus-Architekten Ernst May berief er zum Stadtrat. Dieser suchte nach Wohn- und Siedlungskonzepten, um relativ schnell bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Stadtplanerisch rückten May und seine Mitarbeiter vom bislang praktizierten organischen Städtewachstum ab und entwarfen ganze Siedlungen – so genannte Trabanten – auf der grünen Wiese. Die neuen Stadtteile waren integrativ konzipiert: Ladenzeilen für Geschäfte und kleine Handwerksbetriebe waren ebenso Standard wie Nutzgärten für die Mieter. Zentrale Räume für Waschmaschinen und Fernwärme sorgten für Komfort, ein Novum im sozialen Wohnungsbau. Die Stadtplaner setzten auf vorgefertigte Bauteile, funktional optimierte Grundrisse und viel Freiraum. Letzterer wurde beispielsweise erzielt mit einer aufgelockerten Zeilenbauweise sowie Dachterrassen. Gemäß dem Credo "Licht, Luft, Sonne“ berücksichtigten sie dabei die Ansätze der Gartenstadt-Bewegung. Durch die rationalisierte Bauweise entstanden so bis 1930 Siedlungen mit etwa 15.000 Wohnungen.

Mays Verständnis einer an Funktionalität und kollektiver Einheit ausgerichteten Architektur spiegelte sich auch in Projekten der Nassauischen Heimstätte wider. Sie betreute vormals überwiegend Bauvorhaben von Einzelhäusern oder Kleinsiedlungen mit regionalem architektonischem Bezug. Jedoch von 1928 bis 1932 baute sie dann allein in den Frankfurter Siedlungen Praunheim, Hellerhof und Westhausen rund 5.000 Kleinstwohnungen. Deren Merkmale: streng typisierte Raumaufteilung und eine an ergonomischen Erkenntnissen orientierte Ausstattung.

Neue Maßstäbe gesetzt

Die von May errichteten Wohnblocks und Reihenhäuser selbst folgten den Richtlinien der neuen Sachlichkeit. "Form follows function“, der Leitsatz des Bauhaus-Stils, wurde zur vorherrschenden Philosophie. Von außen brach der nüchterne sachlich-puristische Stil der Flachdach-Bauten mit dem verschnörkelten Vorkriegsdesign des Jugendstils und der Gründerzeit. Auch im Inneren setzte May neue Maßstäbe: Es dominierten offene Grundrisse sowie flexible und passgenaue Lösungen für den Einbau von Möbeln. Zu den neuen Standards gehörte auch die sogenannte "Frankfurter Küche“ – weltweit die erste Einbauküche, die für Stauraum und rationelle Abläufe sorgte.

 

"Soziale Wirtschaftlichkeit“ als Prinzip

Eine der letzten unter Ernst May errichteten Quartiere des "Neuen Frankfurt“ war die Siedlung Westhausen mit 1.116 Einheiten. 690 von ihnen wurden von der Nassauischen Heimstätte erbaut. Der Stadtteil besteht aus sieben Zeilen mit zweigeschossigen Reihenhäusern und 14 Laubengang-Wohnblöcken. Erstmals trennten die Planer die Wohnzeilen von den Fahrstraßen – Fußwege führten zu den Eingängen. Zu Beginn der Bauphase wohnten hier auf 41 Quadratmetern Grundrissfläche je Etage bis zu acht Personen. Zu jeder Wohnung gehörte eine Gartenparzelle, in der die Mieter Obst und Gemüse für den täglichen Bedarf anbauen konnten. 1930 lebten rund 5.000 Bewohner in Westhausen, vornehmlich Arbeiterfamilien. May kommentierte: Anstelle des kurzfristigen Profits sei "die Wirtschaftlichkeit der Weitsicht, die soziale Wirtschaftlichkeit“ getreten.

Dieser Maxime ist die Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte | Wohnstadt (NHW) bis heute verpflichtet. Die Stadt Frankfurt als Anteilseigner stellt traditionell den stellvertretenden Aufsichtsratsvorsitzenden. Unter der Ägide von Ludwig Landmann und Ernst May realisierte sie erste urbane Projekte und rückte gleichzeitig vom reinen Einfamilienhausbau ab. Auch die für die NHW heute noch bindende integrative Sichtweise auf das ganze Quartier wurde in dieser Radikalität erstmals von den Architekten des "Neuen Frankfurt“ umgesetzt. Ein weiterer wichtiger Grundsatz der beiden Sozialreformer ist seit 100 Jahren ebenfalls Handlungsgrundlage von Hessens größter Wohnungsbaugesellschaft: einen Beitrag im Kampf gegen den Wohnungsmangel leisten und bezahlbaren Wohnraum für breite Schichten der Bevölkerung schaffen. So lautete der Auftrag damals und daran hat sich nichts geändert…

Ludwig Landmann

Der studierte Jurist Ludwig Landmann wurde am 18. Mai 1868 in Mannheim geboren. Bereits 1903 legte er eine Denkschrift vor, in der er die "unternehmerische Rolle der Städte“ hervorhob. 1916 berief ihn die Stadt Frankfurt zum Stadtrat. Als Wirtschaftsdezernent der Kommune brachte er die Messe Frankfurt zu neuer Blüte. Im Oktober 1924 wurde er zum Oberbürgermeister der Metropole am Main gewählt. In dieser Position schuf er 1926 das "Siedlungsamt“ mit weitreichenden Kompetenzen. Den Architekten Ernst May berief er zu dessen Leiter. Landmann ließ die Großmarkthalle bauen, förderte den Straßenbau und vergrößerte die Stadt durch Eingemeindungen ganzer Dörfer. Im Zuge der Machtergreifung durch die Nationalsozialsten wurde Landmann, jüdischer Herkunft, 1933 aus dem Amt des Oberbürgermeisters vertrieben. Er floh zunächst nach Berlin und 1939 in die Niederlande, wo er 1945 starb. 1987 wurden seine Gebeine auf den Frankfurter Hauptfriedhof überführt. Bereits zweimal hat die Unternehmensgruppe Nassauische Heimstätte | Wohnstadt mit einer Spende die Sanierung seiner Grabstätte unterstützt.

Ernst Georg May

Der Architekt Ernst Georg May erblickte am 27. Juli 1886 in Frankfurt das Licht der Welt. Prägend für seine visionäre Arbeit war während des Studiums ein Praktikum beim Erbauer der englischen Gartenstadt Letchworth, Raymond Unwin. Nach dem Kriegsdienst wurde May 1919 zum Leiter der Bauabteilung der Schlesischen Landgesellschaft ernannt. Der beim Ideenwettbewerb zur Erweiterung Breslaus mit einem Sonderpreis ausgezeichnete Entwurf "Trabanten“ zeigte bereits den durch Unwins Ideen geprägten Stil Mays. Schon zu dieser Zeit ließ er "Haustypen“ entwickeln und beschäftigte sich mit alternativen Bautechniken. Im September 1925 trat er als Dezernent für Städtebau in Frankfurt an – und übernahm damit auch den Posten als stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der Nassauischen Heimstätte. Nach wenigen Monaten im Amt legte May ein Wohnungsbauprogramm vor mit dem Ziel, die Wohnungsnot zu beseitigen. Schon 1926 ließ er eine Bauplatten-Fabrik im Osthafen errichten, um das ehrgeizige Vorhaben mithilfe industriell vorgefertigter Teile voranzutreiben. 1930 übernahm May die Stelle des Chefingenieurs für den Städte- und Siedlungsbau der ehemaligen Sowjetunion. Aufgrund einer direkt gegen ihn gerichteten Rundfunkrede von Joseph Goebbels entschloss sich May zur Ausreise ins Exil nach Ostafrika und arbeitete dort als Architekt. Nach dem Krieg wurde er Planungsleiter der Neue Heimat Wohnungs- und Siedlungsgesellschaft, später Planungsbeauftragter der Städte Mainz und Wiesbaden. Am 11. September 1970 starb der Revolutionär des sozialen Wohnungsbaus, noch zu Lebzeiten geehrt mit dem Bundesverdienstkreuz, in Hamburg.